"Freude gab es nicht" – Archivworkshop und Zeitzeugengespräch im Jüdischen Museum Berlin
Mit diesem Satz sorgte die 87-jährige Zeitzeugin Herta Weinstein für betretenes Schweigen. Es war die Antwort auf die Frage eines Schülers, ob sie denn während ihrer Schulzeit auch etwas wie Freude empfunden hatte. Eine ziemlich banale Frage eigentlich, jedoch mit dem feinen Unterschied, dass Herta Weinstein als Jüdin zur Zeit des Nationalsozialismus in Wien gelebt hat.
Sie war am 1. Juni mit uns, der Klasse 10L der Voltaireschule Potsdam, im Jüdischen Museum Berlin zu Gast und war bereit, uns Fragen zu ihrem Leben zu beantworten.
Dem Zeitzeugengespräch voran ging jedoch ein interessanter Archivworkshop, in dem wir uns in kleinen Gruppen mit Originaldokumenten aus der NS-Zeit beschäftigt haben. Hierbei hatte jede Gruppe einen anderen thematischen Schwerpunkt zu bearbeiten, z.B. Schule, Kindertransporte oder Emigrationsmöglichkeiten. Alle Themen hatten aber etwas mit Herta Weinsteins Leben zu tun.
Das Gespräch an sich begann dann damit, dass alle Gruppen ihre Rechercheergebnisse vorstellten und Frau Weinstein dann dazu etwas aus ihrem Leben erzählte. Anschließend gab es die Möglichkeit für uns, Fragen zu stellen.
Aus ihren Erzählungen ergab sich ein für uns unvorstellbarer Lebensweg:
Als 11-jähriges Mädchen musste sie kurz vor Kriegsbeginn (1939) mit einem Kindertransport von Wien nach Großbritannien flüchten, ganz allein, ohne Menschen, die sie kannte. Herta Weinstein hatte jedoch das Glück bei Verwandten -ihrem Onkel- in Glasgow unterzukommen.
Doch bereits zuvor musste sie Schreckliches durchleben, denn in Wien wurde ihr Vater nach der Angliederung Österreichs an das Deutsche Reich für einige Zeit gefangengenommen. Dies geschah während der Reichspogromnacht. Wir fragten Frau Weinstein, wie sie diese Nacht erlebte und die Tage danach, und ob sie uns davon berichten könne. Sie erwiderte, sie würde sich nur noch daran erinnern, dass ihr Vater verschwunden war. Alles andere hätte keine Rolle gespielt, da er einfach weg war. Er wurde Tage darauf aus der Haft entlassen und stand plötzlich kränklich vor der Haustür.
Einige Zeit später wurde Herta mit einem Kindertransport nach England geschickt. Ihr wurde dazu von ihren Eltern nichts erklärt. Sie fragte nicht, sondern befolgte einfach, was ihre Eltern ihr vorschrieben. Während Herta Weinstein ihre erste Zeit in Glasgow verbrachte, hatten ihre Eltern die Möglichkeit, im Mai 1939 auf dem Schiff "St. Louis" nach Kuba zu fahren. Der einzige Kontakt, den die Familie zueinander hatte, war das Schreiben von Briefen. Einige Ausschnitte wurden uns vorgelesen und alle lauschten ehrfürchtig. "Die Briefe erzählen mir, woran ich mich nicht erinnern kann", meinte die Zeitzeugin an einer Stelle. Diese persönlichen Dokumente handelten von den alltäglichen Erlebnissen und vor allem von der großen Sorge um ihre geliebten Eltern. Manchmal stockte Herta Weinstein, alte Erinnerungen holten sie ein. Doch sie fasste sich schnell wieder und so erfuhren wir, dass die "St. Louis" aus politischen Gründen nicht in Havanna anlegen durfte. Das Schiff musste zurückkehren nach Europa. Dort wurden die Flüchtlinge in vier Gruppen aufgeteilt.
Hertas Eltern hatten das Glück, zu ihrer Tochter nach England einreisen zu dürfen. Im November 1940 hatte die Familie dann die Möglichkeit, in die USA auszuwandern.
Jahrzehntelang verweigerte Frau Herta Weinstein den Gebrauch ihrer Muttersprache – erst in den letzten Jahren erweckte sie ihr Deutsch wieder zum Leben, um u.a. von deutschen Jugendlichen verstanden zu werden. Wir haben sie verstanden.
Zum Abschluss fertigten wir noch ein "Gruppenbild mit Dame" an und bedankten uns noch einmal recht herzlich bei der Zeitzeugin und dem Archivleiter Aubrey Pomerance.
Durch die verschiedenen Themen-Workshops haben wir unser Wissen über den Holocaust erweitern können. Wir sind dankbar, dass wir die Möglichkeit hatten, Originalakten in den Händen zu halten. Wir bewundern diese starke Person Frau Herta Weinstein, welche Jugendlichen von ihrer Lebensgeschichte erzählt und zu uns sagte: "Ich hatte einfach Glück! Riesengroßes Glück und die Chance, überleben zu können!"
Marie Schnabel & Felix Krassa (Klasse 10L)