An der Voltaireschule Potsdam sind Lernvideos ein möglicher Zugang für die Schüler. Neben diesem sehenden gibt es bei Mathematiika noch den lesenden und den forschenden Zugang. (Foto: Tina Umlauf / Forum Bildung Digitalisierung)
Es gab da diesen Moment, diesen einen Punkt, nach dem es kein Zurück mehr gab. „Wir haben uns angeschaut und festgestellt, irgendetwas hat da gerade ‚klick‘ gemacht“, erinnert sich Geschichtslehrer Philipp Lange. Dieser Moment ereignete sich im Juni 2017 auf dem Rückweg von Leipzig nach Potsdam: Philipp Lange war zusammen mit seiner Kollegin Anne Lieder beim Netzwerktreffen vom Forum Bildung Digitalisierung gewesen und in den Gesprächen mit Lehrerinnen und Lehrern aus ganz Deutschland ist ihnen klar geworden: „Wir müssen unsere Idee jetzt anpacken und verwirklichen – jetzt ist der richtige Zeitpunkt.“
Direkt in der ersten Woche der Sommerferien haben die beiden zusammen mit ihrem Kollegen Gordon Schwedt angefangen, ihre bisherigen Versuche eines kooperativen Unterrichts in ein umfängliches Konzept zu verwandeln. Entstanden ist „GeschICHte“.
Kompetenzen selbst einschätzen: „Ich kann das“
Heute – über ein Jahr später – ist dieses neue Konzept, bei dem das ICH der Schüler ganz klar im Mittelpunkt steht, schon fester Bestandteil der Voltaireschule Potsdam. Wichtig war den drei Geschichtslehrern, dass nicht mehr die Lehrkraft vorne an der Tafel die Hauptperson ist, sondern jede Schülerin und jeder Schüler diese Rolle für sich selbst einnimmt. „Medien sind dabei nur der Deckmantel. Es geht um die Veränderung der Unterrichtskultur“, erklärt Philipp Lange.
Er unterrichtet an diesem regnerischen Morgen zusammen mit seinem Kollegen Gordon Schwedt Geschichte in der elften Klasse. Sie haben ihre zwei Oberstufenkurse zusammengelegt und kommen nun auf insgesamt 50 Schülerinnen und Schüler. Das Thema in diesem Halbjahr setzt sich aus zwei Themenfeldern zusammen: „Herrschaftsformen und Islam“. Einen Schwerpunkt innerhalb eines dieser Themenfelder sollen die Jugendlichen selbst wählen und am Ende des Schuljahres mit einem eigenen Projekt abschließen. „Wir haben versucht, einen Ansatz zu finden, bei dem jeder Schüler einen eigenen Weg finden kann, an das Fach Geschichte heranzugehen und seinen Arbeitsprozess selbst zu steuern“, fasst Gordon Schwedt das Konzept zusammen.
Konkret sieht der Unterricht so aus: In den ersten zehn Minuten versammeln sich alle Schülerinnen und Schüler in ihrem Kursraum, um aktuelle Fragen mit den Lehrern zu klären und über anstehende Aufgaben zu sprechen. An diesem Morgen erinnert Philipp Lange noch einmal alle daran, sich in die „Ich kann“-Listen auf der Moodle-Plattform einzutragen. Jeder Schüler muss in diesen Übersichtstabellen eintragen, wie er sein Wissen in den einzelnen Themenbereichen einschätzt und kann dabei zwischen verschiedenen Kategorien für sich wählen: „Ich weiß das und könnte es erklären“, „Ich glaube, ich kann das“, „Ich glaube, ich muss noch üben“, „Das muss ich noch üben und/oder benötige Hilfe“ oder „Das habe ich noch nicht bearbeitet“. Am Ende ergibt sich für den Kurs ein buntes Kompetenzraster, das jeder einsehen kann. Bei Moodle laden die Lehrer außerdem Texte, sinnvolle Links oder Erklärvideos hoch, mit denen die Schüler sich einen Überblick verschaffen können, bevor sie selbst beginnen, zu recherchieren.
Individuelles und kreatives Arbeiten
Nachdem an diesem Vormittag alle Fragen geklärt sind, geht es für den Rest der Doppelstunde in die Freiarbeit. Geschichtslehrer Gordon Schwedt bietet in einem Raum einen kleinen Workshop an – die Teilnahme daran ist freiwillig. Immerhin sechs Elftklässler haben Lust, sich zum Thema „Der Islam, die islamische Welt und der Westen“ auszutauschen und das selbst erarbeitete Wissen dadurch zu festigen. Ihre Klassenkameraden finden sich derweil in Gruppen zusammen, um an verschiedenen Orten im Schulgebäude weiter an ihren Projekten zu arbeiten. Dafür dürfen sie ihre eigenen technischen Geräte benutzen.
Die vier Mädchen Anastasia, Apollonia, Johanna und Catharina haben sich einen Tisch im sogenannten Lichthof der Schule gesucht. Dort können sie in Ruhe über ihre Ideen diskutieren und Fragen klären: Wer fühlt sich bei welchem Thema sicher? Wer übernimmt wann welche Aufgabe? Anhand eines Musters erstellen sie Arbeitspläne und formulieren dort auch auftretende Probleme. Dabei erarbeiten sich die Schülerinnen neben den fachlichen auch soziale und personale Kompetenzen, die sie im späteren Leben brauchen: im Team arbeiten, sich gegenseitig Feedback geben, sich selbst einschätzen und organisieren.
„Es ist auf jeden Fall ganz anders als der sonstige Unterricht“, meint Catharina. „Wir sind komplett selbstverantwortlich für unsere Projekte und müssen uns gut abstimmen. Aber man lässt sich auch schneller auf Themen ein, wenn man sie selbst recherchiert.“ Anastasia nickt: „Der Unterricht ist außerdem viel individueller, man kann wählen, was einen anspricht. Am Ende stehen dann nicht fünf identische Vorträge, sondern ganz viele kreative Projekte.“ Sie erinnert sich an das vergangene Halbjahr: Zum Thema Frauenbild in der Antike sind beispielsweise ein Brettspiel, ein Online-Quiz, ein Gemälde mit Bildinterpretation, Filme und Radiobeiträge entstanden.
Anfängliche Skepsis überwunden
Für die vier ist es schon das zweite gemeinsam Projekt im Rahmen von „GeschICHte“. Catharina erinnert sich an die Schwierigkeiten zu Beginn: „Ich habe schon länger gebraucht, um überhaupt in dieses neue System reinzukommen und ich weiß, dass es anderen auch so ging.“ Sie überlegt kurz: „Es braucht einfach eine andere Arbeitsmoral, das gefällt natürlich nicht jedem.“ Über die Zeit habe es sich dann aber bei den meisten eingespielt.
Umso wichtiger war es, dass die Lehrkräfte selbst von ihrem Konzept überzeugt waren. „Auch für mich hat sich der Unterricht natürlich verändert“, sagt Anne Lieder – ihre Rolle als Lehrerin sei eine andere geworden, ebenso die Art der Unterrichtsvorbereitung und ihre Haltung gegenüber den Schülern. „Ich bin mehr Begleiterin im individuellen Lernprozess. Das bedeutet, ich muss meinen Schülern mehr vertrauen, sie auch Fehler machen lassen und wissen, dass ich nicht alles kontrollieren kann.“ Doch genau dieser prozessorientierte Weg sei der richtige – auch wenn man dafür manchmal Um- oder Irrwege in Kauf nehmen müsse.
Inzwischen sind auch viele Kolleginnen und Kollegen neugierig auf das neue Konzept und schauen sich einzelne Elemente davon ab. Ein Effekt, auf den Björn Nolte im Zuge der Digitalisierung verstärkt hofft: „Wir haben als Schule kein einheitliches, festgeschriebenes Medienkonzept“, erklärt der Oberstufenkoordinator, „sondern wir versuchen, in Zusammenarbeit mit dem Schulträger die technischen Voraussetzungen zu schaffen und setzen inhaltlich auf Einzelinitiativen.“ Von diesen Einzelinitiativen gibt es an der Voltaireschule in den verschiedenen Fachbereichen inzwischen eine ganze Reihe. Ein weiteres Beispiel dafür ist das Konzept „Mathematiika“.
Freies Arbeiten im Matheunterricht
Im Mathematikunterricht der achten Klasse von Juliane Liebig sieht es auf den ersten Blick chaotisch aus, auf den zweiten Blick erkennt man, dass es sich vielmehr um ein geschäftiges Treiben handelt. Denn die Schülerinnen und Schüler arbeiten zwar individuell an ihren Aufgaben – gleichzeitig unterstützen sie sich aber in ihrem Weiterkommen und tauschen sich immer wieder aus. Mathematiika ist ein Freiarbeitskonzept für den Mathematikunterricht, das Sebastian Grabow und Lena Florian 2016 entworfen und an der Voltaireschule Potsdam eingeführt haben. Es verfolgt das Ziel, jedem Schüler einen passenden Zugang zum Fach Mathematik zu bieten – es gibt den lesenden, den sehenden und den forschenden Zugang. Unabhängig vom Lernweg müssten am Ende dann aber alle Schüler die gleichen Aufgaben erledigen und wie bei „GeschICHte“ ihre erworbenen Kompetenzen einschätzen, erklärt Juliane Liebig. Dazu ruft sie vorne am Smartboard eine dynamische Tabelle mit allen Namen auf, in der sich die Achtklässler während der Stunde eintragen können.
Die 13-jährige Lotti ist erst seit diesem Schuljahr an der Voltaireschule Potsdam und ihr gefällt die neue Art des Unterrichts: „Ich kann mich auf meine Schwächen konzentrieren und muss nicht die Angst haben, abgehängt zu werden.“ Das, was sie nicht versteht, lässt sie sich in Ruhe erklären – vom Lernvideo oder live von Frau Liebig. Ihrer Mitschülerin Luisa gefällt der Unterricht nun auch besser: „Im Frontalunterricht bin ich häufig nur schwer mitgekommen. Es war schwieriger alles auf Anhieb zu verstehen.“ Seit Mathematiika bekommt sie nun auch bessere Noten. Und Toni, der sonst immer auf alle anderen warten musste, freut sich, dass er nun schneller vorankommt. Er kann dann in der Kompetenztabelle beim aktuellen Thema eintragen „Ich könnte es jemandem erklären“. Bei Schwierigkeiten können sich seine Mitschüler dann auch an ihn wenden.
So nimmt der Austausch an der Schule zu – unter den Schülern, unter den Lehrern, aber auch zwischen Schülern und Lehrkräften. „Viele Kollegen sehen es als Chance, mit den Schülern gemeinsam zu lernen“, bestätigt Björn Nölte. Denn im Austausch entstehen wiederum neue Ideen für die Zukunft.
Text: Laura Millmann, Fotos und Film: Tina Umlauf
INFOKASTEN: Veränderung durch Medien
Die Voltaireschule Potsdam hat bereits 1996 mit integrativer Medienarbeit begonnen. Auslöser waren Medienberichte über den schwierigen Schulstandort. Zu der Veränderung gehörte beispielsweise die Einführung des Faches Medien und Kommunikation (MuK) im Jahr 1997. Nach und nach wurden Medien dann in alle Lehr- und Lernprozesse aller Fächer in allen Jahrgangsstufen integriert – zunehmend handelte es sich dabei um digitale Medien. Um den Einsatz von Medien sinnvoll mit dem Unterricht zu verknüpfen hat die Voltaireschule Potsdam schon früh Mediencurricula in die schulinternen Rahmenpläne integriert. All dies hat das Schulklima und das Image der Schule langfristig verbessert.
2015 schlossen sich insgesamt 17 Schulen in Potsdam zu dem Netzwerk „Schulen einer Stadt“ zusammen, um schultypenübergreifend an Projekten zu arbeiten. Von der Voltaireschule sind fünf Lehrkräfte an dieser Netzwerkarbeit beteiligt. Gemeinsames Ziel aller Schulen ist es, neue Lernkulturen zu entwickeln. Seit März 2017 sind die „Schulen einer Stadt“ ein Projekt der Deutschen Schulakademie.
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